Manche Mitglieder in
den Verbänden der Psychiatrie-Erfahrenen empfehlen, Medikamente abzu-etzen
(langsam auszuschleichen) und ohne Medikamente zu leben. Das Risiko eines
Rückfalls trägt jedoch der einzelne Erkrankte mit allen Konsequenzen.
Nach Rückfrage teilte uns Kalle Pehe mit, dass er seit gut 12 Jahren
medikamentenfrei lebt. Er hat ca. 7 Jahre gebraucht, um herauszufinden, wie
er auch so zuverlässig erneute psychotische Krisen bzw. depressive Abstürze
vermeiden kann. Inzwischen ist er seit 7 Jahren stabil und kann seiner
Arbeit uneingeschränkt nachgehen. Obwohl ihm das gelungen ist und er einer
Dauermedikation skeptisch gegenübersteht, gibt er keine Empfehlungen an
andere, was den Einsatz/Nichteinsatz von Neuroleptika betrifft. Die
Verantwortung dafür muss jeder voll und ganz selbst tragen. 1990/91 wurde
bei ihm eine manisch- depressive Störung diagnostiziert.
Kalle Pehe
Eine andere Sicht von seelischer
Störung – naturwissenschaftliche Überlegungen zur (Selbst-) Heilung
Textfassung eines Referates auf dem Kongress
„Weil der Mensch ein Mensch ist...“ am 18. März, 2004 im Landtag Düsseldorf
Übersicht:
Ausgehend von der Erfahrung, dass eine Auflösung
seelischer Störungen möglich ist und nicht selten vorkommt, skizziere ich
einen theoretischen Rahmen, in dem nachhaltige (Selbst-) Heilung nicht
länger als wissenschaftliche Überraschung erscheinen muss. Das ist nämlich
die theoretisch unbefriedigende Situation unter der Herrschaft des
Medizinischen Krankheitskonzepts.
Im Zentrum der neuen Konzeption steht die
Theorie von der Selbstorganisation komplexer Systeme. Angeregt wurden meine
Überlegungen vor allem durch die Arbeiten des Ilya Prigogine (Nobelpreis für
Chemie 1977) 1). Prigogines Arbeiten leiteten einen grundlegenden
Wandel im Welt- und Menschenbild der modernen Naturwissenschaften ein. Das
medizinische Krankheitsmodell seelischer Störungen erscheint im Lichte des
neuen Paradigmas als eine verstaubte naturwissenschaftliche Theorie, die
einer sach- und menschen-dienlichen Reform unserer psychiatrischen
Institutionen im Wege steht. Die Theorie von der Selbstorganisation nimmt
die grundsätzliche Kritik am Medizinischen Krankheitsmodell (Dorothea Buck)
auf und führt sie weiter. In der Theorie von der Selbstorganisation
komplexer Systeme ist es nur noch ein Teilaspekt eines größeren Ganzen, der
an Bedeutung verlieren wird*), soweit es um ein grundlegendes
Verständnis der komplexen Abläufe bei seelischen Störungen geht.
Als ich gefragt wurde, ob ich für den heutigen
Kongress einen Beitrag zu einem alternativen Verständnis von seelischer
Störung halten möchte, habe ich spontan „ja“ gesagt. Als ich erfuhr, dass
mir dafür gerade mal 10min zur Verfügung stehen, musste ich aber erst einmal
tief durchatmen. Nun gut. 3min werde ich darauf verwenden, eine
grundsätzliche Kritik am medizinischen Krankheitsmodell der Psychiatrie aus
Betroffenensicht zu üben. Bleiben 7min für den Versuch, ein alternatives
theoretisches Modell zu skizzieren, das unsere oft belächelten
Selbsthilfebemühungen wissenschaftlich aufwertet und günstigere
Entwicklungsprognosen erlaubt.
Die Offenheit des Philosophen Gadamer habe ich
in der Psychiatrie schmerzlich vermisst. Ich erlebte, dass das Medizinische
Krankheitsmodell seelischer Störungen dort maßgeblich das Denken und Handeln
bestimmt. Gemeint ist die Auffassung, dass seelische Störungen primär als
Folge eines gestörten Hirnstoffwechsels auftreten. Dorothea Buck kritisiert
dieses Modell als für uns Betroffene verhängnisvolle Theorie, die dem
Verständnis seelischer Störungen entgegensteht. Wir sagen aus Erfahrung,
dass das medizinische Krankheitskonzept (oft) krank macht, anstatt gesund:
-
„...weil es Gespräche über die Inhalte der
Psychosen und ihre Sinnzusammenhänge mit den vorausgegangenen
Lebenskrisen der Betroffenen verhindert,
-
weil es den Psychopharmaka höchsten
therapeutischen Stellenwert einräumt, obwohl sie nur Symptome
verdrängen, aber nicht heilen können,
-
weil es die Betroffenen des Sinnes ihrer
besonderen seelischen Erfahrungen und damit ihrer
Entwicklungsmöglichkeit beraubt,
-
weil es die Selbsthilfekräfte blockiert und
die Betroffenen ent- statt ermutigt." 3)
*) Ich selbst habe mich vor allem aufgrund von
Erfahrungen bei der Erstbehandlung schon frühzeitig vom Medizinischen
Krankheitsmodell distanziert.
Das Medizinische Krankheitskonzept ist ein
naturwissenschaftliches Modell, das traditionell dem deterministischen
Weltbild Isaac Newtons folgt. Sie sollten wissen, dass es heute in den
Naturwissenschaften längst unstrittig ist, dass solche Modelle nur einen
Teil des Naturgeschehens abbilden. Daneben zeigt sich Natur als offenes
Geschehen, als unablässiges Spiel mit neuen Mustern und Formen, dessen
Ergebnisse prinzipiell nicht vorhersagbar sind.
Ilya Prigogine ist einer der Pioniere dieses
neuen Weltbildes. 1977 bekam er den Nobelpreis für Chemie. Es dürfte leicht
nachvollziehbar sein, warum ich mich als Betroffener und
Naturwissenschaftler für seine Arbeit besonders interessiere. Dorothea Buck
und Ilya Prigogine schafften mir Freiräume des Denkens und Handelns, die
durch das medizinische Krankheitskonzept verstellt waren, Freiräume die ich
unbedingt brauchte, um mich entwickeln zu können, Freiräume, die ich
innerhalb psychiatrischer Institutionen selten vorgefunden habe.
Durch Selbstorganisation zu
einer neuen Ordnung
...was ich von Ilya Prigogine gelernt habe.
Prigogine untersuchte Reaktionsketten, in denen
verschiedene Teile eines Systems in einer Art zirkulärer Kausalität
verbunden sind. In solchen Systemen ist jeder Faktor Ursache und Wirkung
zugleich. Die Faktoren wechselwirken nach bestimmten lokalen Regeln. Wenn er
solche Systeme von außen störte, so bildeten sich je nach Bedingungen
verschiedene räumliche und zeitliche Muster, die Prigogine „dissipative
Strukturen“ nannte.5) Er spricht von spontaner Selbstorganisation
der Systeme.Einmal sensibilisiert für dieses Phänomen sah man plötzlich die
Kreativität der Natur bei der Bildung von Mustern allerorten. Prigogine gab
den Anstoß zu interessanten Forschungsarbeiten in den verschiedensten
Fachgebieten. Ich würde Ihnen an dieser Stelle gerne einen Überblick geben
über Beispiele aus der Mathematik, Physik, Chemie und Biologie etc., muss
hier aber aus Zeitgründen eine Lücke (-------) 6) lassen und in
einem „Riesensatz“ direkt zum Menschen springen.
„Weil der Mensch ein Mensch
ist...“,
Abb.2 Selbstorganisation der Persönlichkeit
Ein Mensch
kann ein als schwierig erlebtes Umfeld verkraften und an den Aufgaben
wachsen, die ihm dort gestellt werden. Er kann in diesem Umfeld aber auch
scheitern, wenn er keine Möglichkeit findet, sich vor Überforderung zu
schützen. Eine positive Eigendynamik kann „kippen“. Mensch kann verzweifeln
oder „abheben“ und auf verschiedene Weise auffällig werden.
Ob ein Umfeld
als schwierig erlebt wird, das hängt in unserem Kulturraum meist von
problematischen Beziehungen zu anderen Menschen ab. Wer in Beziehungen
lebt, die sich auf beiden Seiten gut anfühlen, den können schwierige
Menschen und Situationen weniger leicht aus der Bahn werfen. Ohne solche
Beziehungen sind es oft auch vermeintliche Kleinigkeiten, die einen Menschen
tief erschüttern können. Niemand kann voraussagen, wie sich so etwas
entwickelt. Es kann sein, dass jemand am Ende heil und gestärkt aus
schwierigen Beziehungen heraus- bzw. darüber hinaus- wächst. Auch das Umfeld
kann sich ändern bzw. verändert wahrgenommen werden.
Einem Menschen in der Krise wünschen wir alle
ein positives, heilsames Umfeld, in dem ein beeinträchtigtes
Selbstbewusstsein sich erholen und eine neue positive Eigendynamik sich
entwickeln kann. Mensch kann dann Störungen wieder verkraften und angemessen
damit umgehen. Wieder sind es vor allem Beziehungen zu anderen Menschen, die
zu einer positiven Bewertung des Umfeldes führen. Offen auch hier, wie sich
das entwickelt. Letztlich geht es jeweils um eine konkrete Aufgabe, an der
man scheitern oder wachsen kann. Für einen konstruktiven Umgang mit
Störungen ist es entscheidend herauszufinden, wie im konkreten Fall das
günstige Umfeld/die gute Beziehung aussehen muss, das/die die Chancen auf
Entwicklung beim Gegenüber vergrößert.
Thesen zur
Persönlichkeitsentwicklung
(eigentlich selbstverständlich, aber in der
Psychiatrie ist alles anders...)
Vor diesem Hintergrund entwickelt jeder Mensch
eine ganz individuelle Persönlichkeit, die von seiner individuellen
Geschichte nicht zu trennen ist. Fassen wir zusammen:
Ich z.B. bin „erkrankt“ und wieder „gesundet“.
Die Gene bilden in meiner Geschichte eine Konstante. Das spricht dafür, dass
sie bei meinen Erlebnissen eher eine unbedeutende Rolle gespielt haben. Für
mich gibt es hier einen Widerspruch zum medizinischen Krankheitskonzept, das
für mich eine langfristige oder gar dauerhafte Medikation als unverzichtbar
ansah. Es kam anders.
Verändert hat sich meine Persönlichkeit,
verändert haben sich meine Strategien im Umgang mit Konflikten, und
verändert haben sich die Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Vielleicht
könnte man sich darauf einigen, dass ich meine Gene heute anders nutze. Die
„Psychose“ sehe ich heute als den Beginn eines Prozesses der Neu- und
Selbstorganisation, der mich/uns zu einer neuen, attraktiven Ordnung geführt
hat. Diese Neuorganisation betrifft sowohl meine Psyche als auch mein
Umfeld. Die für mich und meine Angehörigen erfreuliche Entwicklung war nur
außerhalb psychosozialer Einrichtungen möglich, in denen das Medizinische
Krankheitsmodell gepflegt wird.
Selbstorganisation, zu der ich
Selbsthilfe, Eigensinn und Widerspruchsgeist assoziiere, wurden dort
oft als pathologisch wahrgenommen Es blieb mir also nur ein Platz am Rande,
(vielleicht typisch für die Selbsthilfe). Ändern lässt sich das nur in
konkreten Begegnungen, in denen Menschen sich als Menschen erkennen, sich
gegenseitig aushalten lernen und sich - jeder auf seine Art - entwickeln.
Abb.3 Randgruppenexistenz
Umgekehrt hat in der Selbsthilfe die Medizin
meist einen anerkannten Platz. Viele Betroffene nutzen ihre Angebote
parallel zu den Angeboten der Selbsthilfe. Wenn die Medizin ihr/uns
zuarbeitet, ist unser Verhältnis unkompliziert. Wenn sie von der Selbsthilfe
erwartet, dass sie vor allem medizinische Konzepte befolgt und
transportiert, sind dagegen Spannungen vorprogrammiert. Das liegt in der
Natur der Sache. Selbsthilfe kann man nicht instrumentalisieren, ohne sie zu
zerstören. Was die Strukturen in psychosozialen Einrichtungen angeht, so
haben wir Betroffene darauf immer noch wenig Einfluss. Oft können wir wenig
mehr tun, als durch eine kompetente und langfristig angelegte
Selbsthilfearbeit den Reformdruck zu verstärken. Politik kann das nutzen,
wenn sie Reformen will und ihre Unabhängigkeit bewahrt bzw. wiederherstellt,
wo sie bedroht ist.
Abb.4 Das alte Konzept als Teilmenge des neuen
Schließen möchte ich meinen Beitrag mit einem
Zitat von Ilya Prigogine. Neugier auf Fremdes und Störendes, damit
beginnt Veränderung. Die Wahrnehmung und Haltung gegenüber neuen Ideen und
Menschen verändert sich, die uns früher Angst gemacht haben - damit fängt es
an. Ich würde mich freuen, wenn der eine oder andere von Ihnen/Euch genau
das hier und heute erlebt. Ich danke der Fraktion der Grünen/B´90 für die
Ausrichtung dieses Kongresses und Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit.
"Einen
interessanten Aufsatz von Prof. Gerald Hüther, der aus neurobiologischer
Sicht die Fähigkeit des (erwachsenen)
Gehirns zur Selbstorganisation nach Störungen untermauert.
Quellenangaben:
1 |
Ilya Prigogine/Isabelle Stengers -
Dialog mit der Natur – Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens
Serie Piper, 6.Auflage, 1990 |
2 |
Gadamer
Kurzbiographie unter
http://www.ingo-mickan.de/gadamer.htm |
3 |
Dorothea Buck - Das Leiden am
Medizinischen Krankheitsmodell – Vortrag beim REHA-Kongress
Hamburg 2000 |
4 |
Siehe 1) S.284, 2.Absatz
|
5 |
Siehe 1) u.a. S.170/171 |
6 |
Siehe 1) u. a. Kap.IV „Ordnung
durch Schwankungen“, S.176 ff - Eine gute Einführung in
Phänomene und Begriffsystem der Chaosforschung findet sich
unter:
http://www.cd-kernig.de/Chaos_und_Ordnung.pdf |
7 |
Siehe 1) S.282, 3.Absatz
|
Kalle Pehe
Von-Steuben-Str.30
47803 Krefeld
http://mut-zum-anderssein.de/index.html
Wir empfehlen zur Lektüre auch
1. Dorothea Buck
Zu einem anderen Umgang mit Psychosen
Dorothea Buck ist Bildhauerin und
Ehrenvorsitzende des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener und lebt in
Hamburg. Ihre Autobiographie „Auf der Spur des Morgensterns - Psychose als
Selbstfindung" ist bei Econ & List erschienen unter dem Pseudonym
„Sophie Zerchin" (darin ist das Wort
Schizophrenie versteckt).
Vorwort von Kalle Pehe
"Das Leiden am medizinischen Krankheitsmodell
der (Gemeinde)-Psychiatrie" Vortrag beim REHA-Kongress am 5.Mai 2000 in
Hamburg
"Verleugnet - Vergessen" Eröffnungsrede zur
Einweihung des Mahnmals für die in Bethel von 1934 bis 1945
zwangssterilisierten Menschen
Zeitdokument "Zum Menschenbild in einer
psychiatrischen Anstalt 1846", Artikel im "Eppendorf-er"(6/2002, Seite 16)
mit einem Vorwort von Kalle Pehe
2. Aufsatz von Daniel B. Fisher
Wir sind durch die Pharmaindustrie getäuscht
worden
von Daniel B. Fisher
(ins Deutsche übersetzt von Kalle Pehe,
Krefeld)
Der Artikel wurde in der Washington Post am
Sonntag, dem 19. August 2001, veröffentlicht. Er wurde von einem Psychiater
geschrieben, Daniel Fisher MD, der zugleich ein Psychiatrie-Überlebender ist
und einmal als "schizophren" diagnostiziert war. Dr. Fisher bezweifelt das
von der Pharmaindustrie vertretene medizinische Modell seelischer
Störungen...
Wolfgang Baitz hat ein Buch geschrieben, das man
im Forum
www.manic-depressiv.de sich in Auszügen als Leseprobe ansehen kann und
bei Interesse über Christian Springub, den Domaininhaber des Forums, gegen
Überweisung von 15 € aus dem Internet herunterladen kann. Einiges in diesem
Buch ist für die persönliche Lebensführung brauchbar. Ich bin jedoch nicht
der Überzeugung, mit den dort vertretenen Thesen allein die bipolare Störung
bewältigen zu können. Um Rückfälle zu verhindern, ist eine konstante
Prophylaxe mit Medikamenten der sicherere Weg. |