Kriterien
für eine gemischte Episode
A. Beide Kriterien für eine manische Episode und eine ausgeprägte
depressive Episode (Major Depressive Episode) (außer der Dauer) treffen
beinahe jeden Tag für die Periode mindestens einer Woche zusammen.
B. Die Stimmungsstörung ist genügend schwer, um eine ausgeprägte
Beeinträchtigung in beruflichen Aufgabenbereichen oder in üblichen sozialen
Aktivitäten oder Beziehungen mit anderen zu verursachen oder einen
Krankenhausaufenthalt zu erfordern, um sich selbst oder andere zu schützen
oder es gibt psychotische Merkmale.
C. Die Symptome sind nicht durch direkte physiologische Effekte einer
Substanz (z. B. Drogenmissbrauch, Medikamente oder andere Behandlungen) oder
eine generelle medizinische Verfassung (z. B. Überfunktion der Schilddrüse)
verursacht.
Kommentar: Dies mag in Beispiel sein, in dem die DSM-IV Definition ein wenig
zu eng ist. Viele Erkrankte berichten, die gemischte Phase mit hypomanischen,
aber nicht voll manischen, Merkmalen durchlebt zu haben.
Eine gemischte Episode eines bipolar Erkrankten
machen folgende, kursiv dargestellte Briefe des Patienten W. D. an seinen
behandelnden Arzt, Dr. Leo Navratil, in dem nachfolgenden Auszug aus dem
Buch von
Leo Navratil: manisch-depressiv
Zur Psychodynamik des Künstlers
© Verlag Christian Brandstätter, Wien 1999
http://www.brandstaetter-verlag.at
ISBN 3-85498-006-X deutlich.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des
Verlages hier veröffentlicht:
Manisch-depressive Mischzustände
Die Zusammengehörigkeit von Manie und Depression
äußert sich darin, daß es sich um gegensätzliche Erlebnis- und
Verhaltensweisen handelt, die bei ein und demselben Menschen wechselnd
auftreten können, deren Erscheinung sich aber in seltenen Fällen auch
mischen können, so daß ein Mensch gleichzeitig manische und depressive
Symptome aufweist. Diese Mischzustände1 kommen am Übergang einer
Phase in die andere relativ häufig vor, sie können aber auch als besondere
Zustandsbilder längere Zeit persistieren. Häufig sind Mischzustände in
leichteren Fällen manisch-depressiven Geschehens, die dann oft chronisch
sind. Mischzustände sprechen auf die Therapie meist weniger gut an als die
reinen Formen von Manie und Depression.
Kraepelin unterschied die folgenden
Mischzustände: 1. ängstliche (oder depressive) Manie; 2. erregte (agitierte)
Depression; 3. gedankenarme Manie; 4. manischer Stupor; 5. ideenflüchtige
Depression; 6. gehemmte Manie.
Heute werden nach Peters noch drei Formen von
Mischzuständen als klinisch in Erscheinung tretend anerkannt: 1. agitierte
Depression; 2. gereizte (zornige) Manie; 3. manischer Stupor.²
Im Gegensatz zu der Angabe von Peters kannten
sowohl Bleuler, als auch Kraepelin die depressive „ängstliche Manie“ als
einen manisch-depressiven Mischzustand, wobei die Kranken bei depressivem
Affekt mit Versündigungsideen viel reden und schreiben und darüber klagen,
daß die Gedanken ihnen von selber kommen.³
Die „gedankenarme Manie“ ist nach Kraepelin und
Bleuler4 ein weiterer Mischzustand. Er tritt häufig während des
Abklingens einer schweren manischen Phase auf: Die Kranken sind guter Dinge,
sehr beweglich, oft lärmend, fassen aber nicht auf, versuchen zu reden,
können aber nicht viel sagen und wiederholen sich. Als Übergang zur
gedankenarmen Manie kommt es mitunter zu nicht endenwollenden Aufzählungen
gleichartiger Dinge, Personennamen, Ortschaftsnamen. Solche Akkumulationen
von Wörtern mit gleichem oder ähnlichem Sinn haben wir im Buch von Robert
Burton kennengelernt.
Im „manischen Stupor“ ist der Patient in
fröhlicher Stimmung, jedoch in seinen Bewegungen, im Sprechen und Denken
gehemmt.
Einen manisch-depressiven Mischzustand als
Übergangsphänomen von der Depression zur Manie habe ich bei meinem Patienten
August F. beschrieben, der gegen Ende einer depressiven Phase seinen Zustand
als „lichtscheu, leutscheu, arbeitsscheu“ bezeichnete und damit sozusagen in
der Depression zu dichten begann. Dieses Beispiel zeigt aber auch, daß sich
sogar in einer einzelner Äußerung eines Kranken Depressives (der Inhalt) und
Manisches (die Form) verbinden können.
Ein typisches Beispiel für einen Mischzustand
als Übergangsphänomen von der Manie zur Depression ist Johann Hausers
„Leichenwagen“ (Abb. 17, S. 227). Auch hier stammt die Form der Zeichnung
noch aus der Manie, während sich im Inhalt schon das Depressive äußert. Die
schwarze Farbe des Leichenwagens entspricht ganz dem traurigen Sujet, dem
aber mit den roten Zierkappen der Räder noch ein manischer
Tupfen
aufgesetzt ist.
Anmerkungen
1
Der Ausdruck Mischzustand bezieht sich nur auf das gleichzeitige
Vorhandensein manischer und depressiver Komponenten, der Terminus
„Mischpsychose“ meint hingegen die Kombination von Schizophrenie und
manisch-depressiver Krankheit. Heute spricht man in diesem Falle meist von „schizoaffektiver
Psychose“
2 Peters (1990), S. 353 [Peters. U.
H.: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. München:
Orbis Verlag]
3 Bleuler (1983), S. 476 f. [Bleuler,
E.: Lehrbuch der Psychiatrie. 15. Aufl., Berlin: Springer Verlag]
4 Ibid., S. 477
Die Angst vor der Hölle
Im folgenden will ich für den sehr
seltenen Mischzustand der depressiven ängstlichen Manie ein Beispiel
bringen, das dank der Schreibfreudigkeit des Patienten, seiner hohen
Intelligenz und ungewöhnlichen Wortgewandtheit besonders eindrucksvoll ist.
Ich glaube, diese Briefe haben ebenso wie der manisch-depressive
Mischzustand, unter dem der Patient litt, Seltenheitswert.
Ich habe mich in diesem Fall besonders bemüht,
die Anonymität des Briefschreibers sicherzustellen, indem ich nicht nur die
Initialen des Namens veränderte, sondern auch alle Angaben wegließ, aus
denen man auf die Person des Patienten in irgendeiner Weise Rückschlüsse
ziehen könnte.
Vor vielen Jahren wurde Herr W. D., ein Mann in
mittlerem Alter, der schon in jungen Jahren wegen manisch-depressiver
Krankheit in Behandlung war, in unserem Krankenhaus aufgenommen. Herr W. D.
war dreimal kurzzeitig stationär bei uns. In Rahmen der ambulanten
Nachbetreuung war ich mit ihm einige Jahre hindurch in Verbindung. In dieser
Zeit erhielt ich von ihm eine ungewöhnlich große Zahl von Briefen, worin
seine Krankheit und die Mischung des Depressiven mit dem Manischen sehr
anschaulich werden.
Über die Kindheit des Herrn W. D. liegen
widersprüchliche Angaben vor, einerseits sei er verwöhnt, andererseits
streng erzogen worden. Vor allem die religiöse Erziehung dürfte eine strenge
gewesen sein. Auch in der Zeit, da ich mit ihm in Verbindung stand, war W.
D. religiös, ein regelmäßiger Kirchenbesucher und Sakramentenempfänger. Um
das 20. Lebensjahr dürften die ersten deutlichen manisch-depressiven Phasen
in Erscheinung getreten sein. Später heiratete Herr W. D. In der manischen
Phase schrie und schimpfte er mit seiner Frau; auch mit seiner Mutter und
Schwester ist er bereits so verfahren, hat sie sogar geschlagen; in der
Depression wurde er von Selbstvorwürfen und vor allem von Angst geplagt.
Er erwarb berufliche Qualifikationen, versagte
aber infolge seiner Krankheit immer mehr in seinem Beruf und wurde in
mittlerem Lebensalter schließlich als berufsunfähig erklärt, was zusätzliche
Selbstvorwürfe zur Folge hatte.
Nach Angabe seiner Mutter habe er in jungen
Jahren stets ein sehr gesteigertes Selbstbewußtsein an den Tag gelegt, habe
sich besser gedünkt als alle anderen Menschen und sei der Meinung gewesen,
etwas ganz Hervorragendes werden zu müssen. Die Vorschläge der Mutter, einen
gesicherten Beruf anzustreben, habe er verworfen.
Herr W. D. war, bevor er unser Krankenhaus kam,
viermal stationär an der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik und wurde
dort wegen eines depressiven Stupors einmal auch mit Elektroschocks
behandelt. Während seines zweiten Klinikaufenthaltes berichtete die Mutter,
daß sie zeitlebens darauf bedacht gewesen sei, ihm gegenüber energisch zu
sein. Nun bereite es ihm anscheinend eine besondere Genugtuung, daß sie sich
um ihn sorge und ihn bemuttere. Sie tue es nun deshalb, weil ihr der Sohn
leid tue und sie selbst von seinem Zustand schwer bedrückt sei.
Zu einem späteren Zeitpunkt gab die Gattin an,
daß Herr W. D., seit sie ich kenne, anders als andere Menschen reagiere. In
den ersten Jahren ihrer Ehe sei er trotz beruflichen Versagens immer noch
obenauf gewesen. Alle anderen habe er weit unter sich gesehen. Ein
besonderer Zug sei gewesen, daß er ständig geredet habe. Im Praktischen habe
er immer versagt. Seitdem er seinen letzten Arbeitsplatz wegen
Streitigkeiten verloren habe, habe sich seine Stimmung mehr ins Depressive
verschoben. Es sei hierauf eine ängstliche Depression aufgetreten, wobei er
auch gefürchtet habe, seine Frau würde ihn verlassen. Er habe dann kaum mehr
gesprochen, zum Reden angesetzt, aber nichts herausgebracht, habe zu jammern
begonnen und Selbstmordideen geäußert.
Herr W. D. wurde von seiner Gattin als „komisch“
bezeichnet; sie meinte, daß er auch in den Zeiten zwischen den manischen und
depressiven Phasen nie völlig gesund werde, sondern immer komisch sei und
einen Bock nach dem anderen schieße. Seine Frau hätte gesagt, erinnerte sich
Herr W. D., für ihn müsse das Führen des Lebens im Buch stehen, damit er es
ablesen könne; man habe ihn schon in der Schule – trotz
überdurchschnittlichen Schulerfolges – als komisch empfunden. Diese Komik
kommt auch in den folgenden Briefstellen zum Ausdruck; sie geht auf das
Nebeneinander manischer und depressiver Antriebe zurück und ist ein reiner
Ausdruck dieses „Mischzustandes“.
Herr W. D. schreibt, daß seien Depression zu
einer „Superdepression“ angewachsen sei. Sie bestehe hauptsächlich aus 2
Punkten: 1. Berufsunfähigkeit, 2. „Fixe Idee über den unabwendbaren Eingang
in die Hölle im Moment meines Todes.“ „Für Punkt 1 und 2 wäre ich für eine
zielführende Behandlung dankbar, insbesondere für Punkt 2.“ „Mit den besten
Empfehlungen, auch namens meiner Gattin, Ihr sehr ergebener W. D.“
„Danke Ihnen herzlich für Ihren wohlgemeinten
Vermittlungsversuch, den Sie zwischen meiner Gattin und mir tätigten. Daß er
scheitern würde, hätte ich Ihnen prophezeien können. Meine Schuld meiner
Frau gegenüber ist vielleicht so groß, daß sie, selbst wenn sie wollte, kein
Einlenken finden kann … Ich habe (Logorroe) so unentwegt und mit Ausdauer
über mich interessierende Themen geredet, daß meine Frau in die
ausschließliche Rolle der Zuhörerin gedrängt wurde, und wenn sie mir etwas
erzählen wollte, hörte ich sie kaum an … Sie spürte, so erzählt meine Frau
zurückblickend, aus allem mein Handlungen das Desinteresse. Jetzt tut mir
alles furchtbar leid, ich erkenne meine Fehler, sehe aber keinen Ausweg,
keine Möglichkeit, für meine Frau und mich ein gemeinsames Gesprächsthema zu
finden …“
„Nun hätte meine Frau, mit der man leicht
sprechen kann und die sich auch traut, ein Wort zu sagen, mir in der jungen
Ehe ohne weiteres sagen können, die Vorträge seien ihr zu lang. Ich wäre der
letzte gewesen, der nicht eingelenkt hätte. Leicht wäre es damals allerdings
nicht gewesen, denn ich war ein Fanatiker.“
„Insofern hat meine Frau schon recht, ein
eheliches geschlechtliches Beisammensein setzt ein gelungenes eheliches
Gespräch voraus. Vielleicht könnten Sie bei der nächsten Vorsprache meiner
Gattin ein paar Tips geben, wie sie mit mir zu einem harmonischen
Ehegespräch kommt. Diese stereotypen Gespräche von Hölle, Beruf etc. muß ich
als Voraussetzung freilich aufgeben. Meine Frau soll einsehen lernen, daß
ich ein Mensch bin mit Freud und Leid und kein ‚kranker Kretin’, wie sich
mich immer bezeichnet.
Ergebenste Empfehlungen W. D.“
Aus einem anderen
Brief:
„ Die Fachärzte, die mich vor Ihnen behandelt
haben, sagten alle zu meiner Frau, ich sei ein Grenzfall. Es ist aber
noch nichts oder zu wenig geschehen, um meine Psyche in den Bereich des
Normalen zu bringen. Vielleicht könnten Sie das nachholen. Ich will nicht
zeit meines Lebens ein Grenzfall bleiben … meine Frau sagte, daß ich sie
seit Beginn der Ehe mit jeder Handlung vor den Kopf gestoßen habe. Es wären
nun normale Handlungen einzuüben, am besten mit Mithilfe meiner Frau.“
„Ich glaube, das Wichtigste wäre derzeit, die
starke Depression wegzubringen, um endlich einmal ein Intervall zu bekommen.
Wie, das werden Sie als Fachmann am besten wissen.“
„Meine Frau erlaubt mir das Schreiben, ist
aber persönlich nicht dafür, weil sie das Schreiben ‚blöd’ findet. Sie will
sich auf keinen Fall damit identifizieren.“
„Also bitte bringen Sie mich in die
‚normale Zone’ hinein … Sie könnten mir durch diese
‚Normalisierung’ das Alltagsleben erleichtern, ich könnte wieder mit Genuß
lesen etc. etc.“
„In der Hoffnung, daß sich eine meinen Fall
vorwärts bringende Lösung Ihrerseits finden wird, zeichne ich mit
vorzüglicher Hochachtung W. D.“
Aus einem weiteren
Brief:
„Ich bin gefühlsschwach und kontaktarm … so
hat mich anläßlich der Behandlung eines depressiven Stupors ein Arzt meiner
Frau gegenüber charakterisiert. Das ist auch die Wurzel meines Kummers, weil
ich seit meiner Jugend nie mit Mitmenschen echten Kontakt finden konnte. Das
ist auch der Hauptteil meiner Depression. Nehmen Sie sich als Therapeut
meiner Gefühlsschwäche an, so daß ich wieder normal weinen und lachen
kann. Zur Beseitigung der schweren Depression wären wohl 1-2 starke
Antidepressiva erforderlich, die Kontaktschwäche würde nicht so ohne
weiteres weggehen, hier wären wohl einige therapeutische Sitzungen
erforderlich, und ich weiß nicht, ob Sie selbst diese übernehmen können und
wollen. Was halten Sie überhaupt von Tiefenpsychologie? Manchmal fürchte
ich, meine Depression wird mein ganzes Leben nie weggehen. Tun Sie bitte,
mit oder ohne Medikament, alles, was in Ihrer Macht steht, um mich von der
schmerzvollen Depression zu befreien.“
„Seit drei Jahren hat sich an der Depression
nichts geändert, vorher war ich 4½ Monate stark manisch.“
„Ihr sehr geehrter Herr Dr. F. hat mich mit
der Gleichgewichtstheorie bekannt gemacht. Weil ich einmal bereits 16 Jahre
stark manisch war, müßte ich nun ebenfalls 16 Jahre depressiv sein, damit
das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Gott und Ihre Arztkunst befreie
mich von weiteren 13 Jahren Depression. Bitte helfen Sie mir.
Ihr W. D.“
„Entschuldigen Sie bitte vielmals, daß ich
Sie im Urlaub störe. Aber ich habe eine große Kalamität mit meiner
psychotischen Depression, die ich nun schon wieder ohne Intervall seit über
3 Jahren mit mir herumschleppe. Im Monat Juni habe ich nun ein starkes
Anschwellen der Depression registriert. Die Symptome sind:
1. Große innere Spannung, die durch das
Medikament nicht erleichtert wird.
2. Das Gefühl, daß man explodieren möchte.
Man sieht für seine Spannung keinen Ausweg.
3. Ganz schlechte Konzentrationsfähigkeit,
weil das gesamte Innere von der Depression in
Anspruch genommen wird.
4. Die Angst, daß diese Depression nie im
Leben vergehen könnte.
5. Die Angst vor der Hölle als vor einem
unvorstellbar qualvollen Zustand, der immer
andauern wird.
6. Große Verzagtheit wegen des Fehlens
harmonischer seelischer Wechselbeziehungen
zwischen meiner Frau und mir.
Zu 6. Meine Frau sagte kürzlich zu mir,
sie hätte diese Wechselbeziehungen immer bei einem Menschen gesucht und bei
mir von Anfang an nicht gefunden. Mir ist auch immer etwas abgegangen in den
Beziehungen zu meiner Frau, aber nun sehe ich deutlich, daß ich bzw. meine
MDK schuld daran sind. Ein Grund mehr für Sie, sehr geehrter Herr Primar,
mir mit passenden Medikamenten (starken Antidepressiva) in Kürze ein
Intervall zu schaffen. Denn als normaler Mensch,
und ein solcher bin ich ja im Intervall, werde ich auch normale Beziehungen
zu meiner Frau schaffen können. Daher meine Bitte an Sie, weil ich durch
Ihre Hilfe ein normaler Mensch zu werden hoffe: Tun Sie die Valium,
Kemadrin, Ludiomil und Dapotum weg, und verschreiben sie mit statt dessen
zusammen mit dem Quilonorm starke Antidepressiva wie z. B. Trofanil und
Tryptizol, mit denen bei mir schon einmal eine Depression weggenommen wurde.
Auf jeden Fall möchte ich jetzt die quälende Depression weg haben. Eine
Manie ist nicht zu befürchten, weil ich dazu zuviel Krankheitseinsicht habe.
Nur der Depression gegenüber bin ich wehrlos.“
„Ich sehne mich so danach, normal zu werden
und zu sein. Sonst hat das Leben für mich überhaupt keinen Sinn … Die
Depression ist überaus quälend. W. D.“
„Die Depression, so betone ich noch einmal,
ist quälend. W. D.“
„Bitte machen Sie mich gesund und normal! Ich
halte die täglich stärker werdende Depression und die Hand in Hand damit
gehende Angst vor der Hölle wirklich nicht mehr aus … Ihr W. D.“
„Extrem depressives Zustandsbild … zahllose
Selbstvorwürfe drücken mich zu Boden. Ich bin in der Sackgasse und weiß
nicht, wie ich dort herauskomme … Und täglich die Angst vor der Hölle!“
„Der Grund, warum ich Ihnen heute
schreibe, ist, daß ich nach jahrelangem Nachdenken darauf gekommen bin, wo
die Wurzel allen Übels liegt. Sowohl in der Manie als auch in der Depression
bin ich total liebesunfähig, mit dem
Unterschied, daß ich diese Ichvereinsamung in der Depression als höchst
quälend empfinde, während es mir in der Manie, befaßt mit den eigenen
Überwertigkeitsideen, nichts ausmachte. Die Qual, die ich derzeit durchmache
wegen der Unfähigkeit zu lieben, ist unbeschreiblich. W. D.“
„Der Zusammenhang zwischen der
Liebesunfähigkeit und der Angst vor der Hölle ist kausal.“
„Die
Angst vor der Hölle wird immer stärker und auswegloser … ich meine, daß
die Depression nur auf dem Umweg über die Angst vor der Hölle geheilt werden
kann. Die Depression kann selbständig gar nicht angegangen werden, sie ist
nur die Auswirkung der Angst vor der Hölle. Bedauerlich ist, daß ich
sowohl in der Depression wie auch in der Manie liebesunfähig bin. Dadurch
entbehren wir einen wichtigen helfenden Faktor, die Liebe.“
„Bitte bereiten Sie sich an Hand von
ähnlich gelagerten Fällen vor, wie Sie mir die
Angst vor der Hölle wegnehmen können. Denn mit der
Angst vor der Hölle ist es kein lebenswertes Leben. W. D.“
„Ich muß mein Schreiben berichtigen.
Nicht die Angst vor der Hölle, sondern meine
Liebesunfähigkeit ist die Wurzel der Depression. Die Angst vor der Hölle
ist nur die Folge der Liebesunfähigkeit. Meine große Sorge geht nun dahin,
ob Sie wohl imstande sein werden, mir die Liebesunfähigkeit durch
Auflockerungsübungen etc. zu nehmen. Die Liebesunfähigkeit und die Angst vor
der Hölle sind beide quälend und ich kann nicht lachen, solange ich von
ihnen befallen bin … mit der Liebesunfähigkeit muß etwas geschehen und zwar
nicht wie bisher bloß mit der Medikamententherapie. Es müsste auch
Psychotherapie eingesetzt werden, wenn Sie sich dafür nicht Zeit nehmen
können, bitte überweisen Sie mich an einen mit der Materie vertrauten
Kollegen.“
„Bei meiner Frau sind Ihre wohlgemeinten
Vermittlungsversuche nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Das habe ich
schon an dem bitterbösen Gesicht gemerkt, das meine Frau aufsetzte, als wir
das Spital verließen …“
„Zu Hause erklärte mir meine Frau, ich sei
blöd und man sehe mir das an meinem Gesicht an. Wenn sie gewußt hätte, was
für ein Spinner ich sei, hätte sie mich nie geheiratet …“
„Meine Krankheit heißt Angst, Angst und
wiederum Angst! Die Angst-Krankheit. Können Sie die Angst-Krankheit
vollständig heilen??? Ich wäre froh, ich warte seit 3 Jahren ohne Hoffnung.
Die Beschwerden der Angst: Ein vollverzweifeltes Leben, keine frohen
Stunden, kein Lachen und Scherzen, keine Freude, kein Friede, kein Schimmern
von Frohsinn, kein Sonnenstrahl, quälende Unruhe, ein Leben ohne Sinn. Und
diese verzweifelte Angst geht den Rest meines Lebens mit, bis sie mich in
einen qualvollen und hoffnungslosen Tod stößt. Und wovor habe ich Angst? Vor
der Hölle. Diese Angst ist für den gläubigen Christen die maßloseste Angst
überhaupt.“
„Vielleicht finden Sie in einem Fachbuch
einen Fall, wo ein Mensch in meiner Lage von der Angstkrankheit völlig
geheilt wurde … Durch dieses Schreiben fühle ich mich nicht entlastet von
meiner Bergesangst, denn ich kann nicht hoffen. Damit Sie mich von meiner
Angst heilen, da müsste ein Wunder geschehen. Nehmen Sie mir die Offenheit
nicht übel. In meiner Seele ist nur Angst. W. D.“
„Jetzt habe ich nur noch einen einzigen
Wunsch an Sie: Die Normalisierung meiner
emotionalen Sphäre. Sie wissen es beruflich: Die Formen der
Cyclothymie. Gefühl entweder über oder unter den Normalen, aber nie
zusammenklingend mit den Normalen. Seit ich lebe, habe ich immer abnormale
Phasen gehabt, ich übertreibe nicht. Ich bin von der normalen Gefühlsskala
ausgeschlossen. Mit mir von normalen Gefühlen zu reden ist wie der Dialog
mit einem Blinden über die Farbe. Ich leide unvorstellbare Qualen wegen
meiner emotionalen Ausgeschlossenheit von den Normalen. Hören Sie auf meinen
erschütternden Appell: Geben Sie mir das emotionale Augenlicht der normalen
Welt!“
„Da Tryptizol und Ludiomil, die beiden
Antidepressiva, bei mir trotz relativ langer Einnahme kein Intervall
produzierten, versuchen Sie bitte ein anderes Präparat, um mir ein Intervall
zu verschaffen. Denn ohne vorhergehendes Intervall nützt Quilonorm nichts.“
„Der depressive Druck ist unerträglich, ich
kann nicht lesen, mich mit nichts beschäftigen, weil ich mich nicht
konzentrieren kann. Und das seit Jahren! Könnten Sie nicht hier Abhilfe
schaffen durch ein geeignetes, in der Normallage stabilisierendes
Medikament? Es muß doch ein solches geben, wenn jedes Jahr eine Flut neuer
Medikamente auf den Markt kommt.“
„Von einer stationären Kur halte ich nichts.
Bitte bereiten Sie sich bis zum nächsten Mal vor, mit welchem Medikament Sie
mich emotional normalisieren können. Ich hoffe, daß dieser Brief meinen
Krankheitszustand hinlänglich wiedergibt. Er ist wichtig, lesen Sie ihn
bitte zweimal. W. D.“
„P. S. Können Sie mir eine normale
Gefühlsskala schenken? Ich flehe Sie an, bemühen Sie sich bitte!“
„Nun wieder am Ende des Jahres
angelangt, muß ich mit großem Bedauern
feststellen, daß Ihre therapeutischen Maßnahmen weder i. S. Depression noch
i. S. Angst vor der Hölle Erfolg hatten. Diese 3 Jahre haben Sie mir also
genommen und ich habe nicht mehr viel Zeit, denn ich nähere mich …“
„Heilen Sie, aber bitte bald: a) meine schon
so lang dauernde Depression, b) meine Angst vor der Hölle (Zwangsvorstellung
seit 3 Jahren). Außer E-Schock ist mir jedes Heilmittel recht.“
„“Sagen Sie mir bitte, denn das ist für mich
wichtig, ob Sie in Ihrer ganzen bisherigen ärztlichen Tätigkeit auch nur
einen Patienten, Diagnose ‚Angst vor der Hölle’ geheilt haben.“
„“Wenn Sie jetzt an der Aufgabe der
Vollheilung meiner Angst vor der Hölle mit Zwangsvorstellung versagen, ist
alles bisherige umsonst gewesen und wir müssen uns nach einem andern
Facharzt umsehen, was uns sehr leid täte. W. D.“
Das macht mir Sorge, daß die Dauerdepression
zusammen mit der explodierenden Angstpsychose (Angst vor der Hölle) steil
abwärts strebt. Das deutet darauf hin, daß es zu einer Krise kommen wird,
einer Art Explosion. Denn ich bin zum Zerplatzen angespannt
mit Leib und Seele in Richtung Vollheilung.
Ich will auf keinen Fall mehr unter seelisch Gesunden mit
Zwangsvorstellungen, die mein Hirn zur Gänze blockieren, leben … ich will
sie durch den tüchtigen Arzt forthaben … ersehne nichts anderes als einen
sehr tüchtigen Arzt, der meiner komplizierten Krankheit gewachsen ist. W.
D.“
Zu diesem Brief wurde neben dem blauen auch ein
roter Kugelschreiber verwendet; es finden sich rote Unterstreichungen und
mehrfache rote Unterstreichungen einzelner Wörter; das Wort „Hölle“
ist nur mit rotem Stift geschrieben.
„… darum habe ich Ihnen auch im vergangenen
September geklagt, ich vermisse die seelische Liebesfähigkeit. Sie haben
damals irrtümlicherweise auf die körperliche Liebesfähigkeit umdirigiert,
die aber bei mir keine Rolle spielt, denn ich bin seit 3 Jahren impotent.
Was sagen Sie als Psychiater zu meinem Problem? Können Sie mir den Weg zur
vollen psychischen Liebesfähigkeit weisen? Damit wäre mein Problem gelöst …
Denken Sie über seelisches Anliegen nach. Meine Frau liebt mich. W. D.“
„Ergänzungen meiner Krankengeschichte: Vor
Beginn Ihrer Behandlung zweicyclische MDK, rascher Phasenwechsel, 3
Depressionen und 3 Manien in einem Abstand von ½-¾ Jahren, keine normalen
Intervalle, ständige psychiatrische Behandlung.“
„Von Ihnen konnte weder die jetzige
Dauerdepression noch die Angst vor der Hölle geheilt werden. Diesen Umstand
vermerke ich mißmutig. Die bisherigen Medikamente haben samt und sonders
nicht gewirkt (Ludiomil, Dapotum usw.). Verschreiben Sie mir bitte ein ganz
neues, sei es auch klinisch noch nicht erprobtes Medikament. Sollte es die
Krankenkasse nicht bezahlen, bin ich bereit, meine kärglichen Ersparnisse
meiner Gesundheit zu opfern. Mir kommt es nur darauf an, daß Sie mir mit
Ihrer ärztlichen Kunst (kommt von können!) meine Angst vor der Hölle –
Angstpsychose, Angstneurose – nehmen. W. D.“
„Ihr s.g. Herr Dr. F. hat mir das letzte Mal
gesagt, nur der Priester könne die Angst vor der Hölle wegnehmen, nicht der
Arzt. Wenn das so wäre, säße ich zwischen 2 Sesseln. Ich habe nämlich in den
letzten 3 Jahren schon stundenlang mit Priestern über meine Angst mit der
Hölle diskutiert, leider ohne das geringste Ergebnis, ohne die geringste
Erleichterung. W. D.“
„Zu Beginn meiner Erkrankung sagte ein
Psychiater zu meiner Mutter, ich würde an einer spätpubertären
Reifungsverzögerung leiden. Diese ‚Reifungsverzögerung’ hat sich nie
reguliert. Ich versage dauernd, weil ich kein reifer Mann bin. Ich
bezweifle, ob mir diesbezüglich geholfen werden kann. Ich müßte durch
psychotherapeutische Behandlung die Reife eines 50jährigen bekommen, dann
käme ich in das mir derzeit leider völlig fehlende Gleichgewicht. W. D.“
„… ich bin reifungsgradmäßig kein bißchen
weitergekommen. Ich stehe nun da, kaum mit der Lebensreife und emotionalen
Reife eines 20j. Burschen. Herzensbildung habe ich nie gehabt (lt. meiner
Mutter). Weil ich so von Unreife strotze und keine Chance habe, reifer zu
werden, weiß ich auch, daß ich zur Hölle verdammt werde. Es sei denn, es
gibt eine Möglichkeit im Rahmen der med. Behandlung. Ich leide wahnsinnig an
meiner Reifungsverzögerung, weil ich mich der zwangsläufigen Folge der
Verdammung zur Hölle nicht entziehen kann …Machen Sie einen normalen und
gesunden Mann aus mir, aber einen seinem Alter entsprechenden reifen Mann.
Die Chemotherapie wird da nicht auslangen! Ich fürchte mich gräßlich vor der
Hölle! W. D.“
„Ich halte die Angst vor der Hölle nicht mehr
aus!
Ich halte die Angst vor der Hölle nicht mehr
aus!
Ich halte die Angst vor der Hölle nicht mehr
aus!
Bitte treffen Sie bei meinem Wiederkommen am
… eine therapeutische Maßnahme, wodurch mir die Angst vor der Hölle genommen
wird. Ich halte sie nicht mehr aus. Bitte befreien Sie mich von der Angst
vor der Hölle! Bitte, helfen Sie mir, ich halte diese Angst vor der Hölle
nicht mehr aus! Aber bitte nicht dort behalten stationär. Ich muß bei meiner
Frau bleiben.
Bitte befreien Sie mich von der Angst vor der
Hölle. Jeder Tag ist für mich eine Qual. Ich halte die Angst vor der Hölle
nicht mehr aus! Versuchen Sie sich einmal in mich hineinzuversetzen, wie ich
durch die Angst vor der Hölle leide, unvorstellbar leide.
Fassen Sie diesen Brief als SOS-Schrei auf
und denken Sie sich etwas aus, wie Sie mir die Angst vor der Hölle nehmen
können.
In der Hoffnung, keine Fehlbitte getan zu
haben, mit vorzüglicher Hochachtung W. D.“
„Bitte geben Sie mir starke Injektionen, ich
bin sehr hartnäckig gegen Medikamente … Ich habe solche Angst, daß die ganze
Behandlung daneben geht und ein Schlag ins Wasser wird, das fürchte ich
trotz Ihrer Tüchtigkeit und Erfahrung … Ich bin sehr verzagt. W. D.“
„… sehe ich mich einem negativen Gericht
Gottes, des Herrn, ausgesetzt. Es handelt sich bei der Angst vor der
Hölle um keine Wahnidee, die mit Hilfe von Haldol und Lithium
ausgetrieben werden kann, sondern um eine reale Befürchtung. Die
sakramentale Beichte hat zuwenig erbracht, weil mir immer neue schlechte
Sachen aus dem vergangenen Leben einfallen und weil ich mich nicht so gut,
wie es für den Zweck erforderlich wäre, erinnern kann. Ich fürchte
daher einen so beschaffenen Tod, daß ich einst mit dem Gedanken, sofort in
die Hölle zu kommen, sterben muß. Ich fürchte dauernd einen solchen
Todeskampf, der ja in der Natur der Sache nach hart genug ist.
Ich werde diese Qual-Angst nicht vergessen
können.
W. D.“
„Zwang, dieses Wort hebe ich deswegen
so hervor, weil es der Schlüssel für die Hintergründe meiner Krankheit, der
AvdH [Angst vor der Hölle], ist. Mein Geist will nicht die
Gedanken der Angst denken, sondern er muß sie wegen des vorliegenden Zwanges
denken … W. D.“
Der Schreiber dieser Zeilen war ein
hochintelligenter Mann. Sein unermüdliches Schreiben und die Vielzahl der
Briefe entsprechen seiner manischen Antriebssteigerung. Die quälende
Empfindung der Leere zwischen ihm und seiner Frau und das schmerzhafte
Gefühl, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein, sind deutliche Zeichen
endogen depressiven Erlebens. Daniel hell spricht von der „veränderten
Mitmenschlichkeit – Entfremdung und Leere“ des endogen depressiven Menschen.1
Und die „Angst vor der Hölle“ ist eine treffende Metapher für dieses Gefühl,
jede Beziehung zu anderen Menschen – für immer – verloren zu haben, als
Mensch aus der Welt der Menschen herausgefallen zu sein.
Besonders der Vergleich mit anderen macht dem
Depressiven sein Versagen deutlich, verstärkt sein Minderwertigkeitsgefühl
und seine Niedergeschlagenheit. Es wäre möglich, daß bei Schwerstdepressiven
die ins Wahnhafte gesteigerten Selbstvorwürfe einen Versuch darstellen,
durch maßlose Selbstkritik wenigstens die Selbstbeurteilung nicht ganz aus
der Hand zu geben, meint Daniel Hell.2
An der schweren Depression kann man also, wie
ich glaube, in diesem Fall nicht zweifeln. Daß dieser Zustand aber auch
manisch ist, ist nicht zu übersehen. Den Wunsch, wieder gesund zu werden,
wieder ein normaler Mensch zu sein, vermag ein Depressiver in dieser
Intensität nicht auszudrücken; ebenfalls nicht die Dringlichkeit des
Wunsches nach wirksamer Behandlung sowie die Enttäuschung und den Unmut
darüber, daß ihm bisher eine solche nicht zuteil geworden ist. Ein
depressiver Mensch hätte weder die Kraft noch den Mut, seinem Arzt zu
schreiben: „Wenn Sie jetzt … versagen, ist alles bisherige umsonst gewesen,
und wir müssen uns nach einem anderen Facharzt umsehen …“ Dazu ist zu
bemerken, daß sowohl die stationäre wie die ambulante Behandlung in unserem
Krankenhaus völlig kostenlos war und freiwillig erfolgte.
Auch stundenlange Aussprachen mit Priestern
konnten Herrn W. D. die Angst vor der Hölle nicht nehmen. Die schwere
Depression löscht auch beim religiösen Menschen die Möglichkeit gläubigen
Vertrauens aus. Die Melancholie wurde deshalb in früheren Jahrhunderten von
der Kirche als eine Todsünde bezeichnet. In der chassidischen Lehre wurde
die Schwermut schlechter und verderblicher als die Sünde genannt.3
Er strotzte von Unreife, schrieb Herr W. D., und
wisse deshalb, daß er „zur Hölle verdammt werde. Es sei denn, es gibt eine
Möglichkeit im Rahmen der med. Behandlung.“ Muß man den ersten Satz als eine
depressive Wahnidee bezeichnen (Die Reifungsverzögerung habe die Verdammung
zur Hölle zwangsläufig zur Folge), so ist der zweite Satz nicht weniger
absurd: Wie kann eine medizinische Behandlung vor der Hölle retten?
Dem Arzt gegenüber hat Herr W. D. einerseits
eine hohe Meinung, wie es für Depressive typisch ist, er idealisiert ihn,
projiziert gewisse Allmachtsphantasien auf ihn: Der Arzt könne ihm eine
normale Gefühlsskala schenken, ihn zu einem reifen Mann machen, vor allem
aber ihm seine quälende Angst nehmen; andererseits hat er keine Scheu, ihn
aufzufordern, sich zu bemühen, nachzudenken, Bücher nachzuschlagen, sich auf
seinen nächsten Besuch vorzubereiten. Auch in die psychotherapeutische
Behandlung mischt er sich ein: Man solle seiner Gattin „Tips“ geben, man
solle mit ihm normale Handlungen einüben, man soll Auflockerungsübungen mit
ihm machen; erscheut sogar nicht davor zurück, lehrerhafte Erklärungen
einzuflechten („Kunst kommt von können“) und dem Arzt vorzuwerfen, durch den
Mißerfolg der Therapie ihm drei Jahre seines Lebens genommen zu haben.
Die Wortgewandtheit in den Briefen und der
Redefluß sind außerordentlich. Herr W. D. spricht von einer „Bergesangst“
und fordert eine „Vollheilung“. Die ständige Wiederholung des Wortes „Angst
vor der Hölle“ oder gar die dreifache Wiederholung des Satzes „Ich halte die
Angst vor der Hölle nicht mehr aus!“ ist wirklich höchst eindringlich.
So viele Unterstreichungen wie in den
Briefen von W. D. kommen nur in den Briefen Manischer vor und passen nicht
in das Bild der Depression. In einem Brief finden sich sogar
rote und mehrfach
rote Unterstreichungen,
ist das Wort „Hölle“ immer rot
geschrieben.
Es ist auch nicht gut vorstellbar, daß ein
depressiver Mensch, ohne Beimischung manischer Komponenten auf den Begriff
„Superdepression“ verfallen könnte, oder die Abkürzung AvdH (Angst vor der
Hölle) gebrauchen würde, wie es Herr W. D. in seinem letzten Brief tat.
Insgesamt scheinen mir die Briefe ein
klassisches Beispiel für diesen sehr seltenen manisch-depressiven
Mischzustand zu sein, der in den Lehrbüchern der Psychiatrie als depressive
„ängstliche Manie“ beschrieben wird. Wegen der Stärke des Leidensdruckes
sprach Herr W. D. selbst mit Recht von einer Depression. Der Außenstehende
ist durch die manischen Erscheinungen geblendet. Je nach dem Standpunkt kann
man von einer Depression oder einer Manie sprechen.
Anmerkungen
1 Hell
(1992), S. 56 ff. [Hell, D: Welchen Sinn macht Depression? Das depressive
Geschehen als Schutz und
Botschaft. Ein integrativer und evolutionärer
Ansatz. Hamburg: Rowohlt Verlag]
2
Ibid. S. 56
3
Buber (1994, S. 476. (vgl. “Depression und Manie in religiöser Sicht,
S. 109 ff.).
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