"Solveigh" oder "Frucht der
Therapie"
Es war während des Picknicks seiner Gruppe am
Abend seines ersten Urlaubstages. Er erwachte aus dem Schlaf der
Alltäglichkeit, als Solveigh auf ihn zu kam.
„Bewunderst du auch den herrlichen Ausblick?",
fragte sie und stellte sich neben ihn. Seltsam aufregende feminine Wogen
voller Wohlwollen brandeten ihm entgegen und umschmeichelten seine
verwundete Seele. „Ja, diese Gräser und Blüten wirken sehr hübsch in der
tief stehenden Sonne. Auch die Dachlandschaft des Dorfkerns gefällt mir sehr
gut. Diese verschiedenen Rottöne der Ziegel! Und die Dächer weisen so
unterschiedliche Neigungen auf. Ganz im Gegensatz dazu die moderneren
Gebäude dort drüben!" - „Früher haben die Architekten halt noch Geschmack
besessen!" lächelte sie. - „Ja, scheint so, dass uns in unserer
übersättigten Welt viel Geschmack verloren gegangen ist! Und der Blick für
die Details!" - „Apropos Geschmack, da, probier mal den Salat, der hat noch
Einiges von dem vollen Geschmack ferner Zeiten!" - „Na, hoffentlich stammt
er nicht von dort!" Sie mussten beide lachen.
Dunkle Locken umrahmten ihr hübsches Gesicht,
eine neckische Strähne war heller gefärbt. Alles war wie immer gekonnt und
sorgfältig drapiert. Ihre in allen Details geschmackvolle Kleidung betonte
die sehenswerten Akzente ihres gertenschlanken Körpers auf das
Vorteilhafteste. War sie oberflächlich, ja, eine Art Paradiesvogel, nur weil
sie sich hübsch zu machen und gewählt auszudrücken verstand?
Einen Augenblick lang schaute sie wieder zu ihm
her.
Wenn sie ihn ansah, glaubte er ein Größerwerden
ihrer Augen zu bemerken, ein Anheben der Brauen, das nicht indigniert
wirkte, sondern überaus interessiert. Ob sie ihn sympathisch fand? Oder ob
sie das jedesmal machte, wenn sie mit jemandem sprach? Wie konnte sich so
etwas Schönes und Bewundernswertes mit mir überhaupt abgeben?, dachte er.
In ihre dunklen, großen Augen konnte er sich verlieren, eintauchen wie in
eine warme Sommernacht.
„Komm, fahr doch mit mir!", sagte sie später.
„Es macht mir nichts aus, einen Umweg zu fahren! Ich hab Zeit!", meinte
sie.
Zeit! Sie drehte den Zündschlüssel. Rot, grün
und gelb leuchteten die kleinen Lichter des klobigen Armaturenbrettes auf,
den verlockenden Lichtern einer fernen Märchenstadt oder eines tropischen
Flughafens gleich.
Er schaute zu ihr hin. Die Armaturenbeleuchtung
warf einen schwachen Schein auf ihre adrett verpackte Figur. Ihre Jeans
waren eng und ihre Jacke knapp.
Das Schwarz ihrer Haare und die auffallend
schmalen Augen verliehen ihr eine exotische Note. Die schelmischen
Lachfältchen taten dem keinen Abbruch.
„Na, wo fahren wir denn hin?", fragte sie und
lächelte spitzbübisch.
„Nach Kroatien!", sagte er. „Istrien!" - Sie
schaute überrascht und sie mussten beide lachen. Er schob nach: „Mein Auto
steht an der Schule. Aber da kann es auch noch eine Weile stehen bleiben."
Langsam legte sie den ersten Gang ein und fuhr
los. „Das ist angenehm, wenn alles sich verlaufen hat, und die Straße frei
ist. Aber ich fahre eigentlich immer langsam." - „Ja, kosten wir es doch
aus! Wir haben ja genügend Proviant bei uns!", warf er ein. - „Ja, und ich
hab noch Kartoffel-Salat!" Wieder verfielen sie beide in ein befreiendes
Lachen.
„Das sollte man doch machen!", meinte sie. Er
sah sie fragend an. „Ja, einfach losfahren. Findest du nicht?" - „Doch!"
Sie lehnte sich zurück und gab leichtfüßig Gas.
Die Bäume links und rechts flitzten vorbei. Oben berührten sich ihre Wipfel
und sie bildeten einladende Bögen festlicher Vegetation.
Er schmiegte seinen Rücken in den Autositz.
Schwerelos flogen sie durch eine Nacht schön wie Samt.
„Ja, oftmals sind wir in unseren Gedanken
gefangen in dem, was nachher zu tun ist, hängen an morgen oder übermorgen.
Und wir wertschätzen das nicht, was jetzt an Schönem geschieht!" „Und Vieles
von dem, was vermeintlich getan werden muss, das muss vielleicht gar nicht
getan werden", nahm er den Ball auf, den sie ihm zuspielte.
Kroatien! Da war es bestimmt warm. Auch in der
Nacht! Überall huschten Eidechsen in der wohligen Wärme, bunt und zierlich
und jede ein Unikat wie eine indianische Perlen-Stickerei. Und erst die
würzigen Düfte der Kräuter!
Jeder Insel, jeder Bucht verliehen sie eine
unverwechselbare Note. Er sah die abwechslungsreiche Küste der Adria aus der
Vogelperspektive vor sich.
Man muss durch Österreich fahren, und danach
durch Slowenien. Den majestätischen Bergen der Alpen zufliegen! Vorbei an
belebendem Wasser, so frisch wie Gischt und klar wie Berg-Kristall. Vorbei
an Grotten mit wunderlichen Olmen. Ja, Hand in Hand mit ihr die
Höhlensysteme durchmessen! Dem Klang und dem Echo schwerer Tropfen lauschen!
Man könnte im Freien schlafen und Decken hatten wir ja dabei, vom Picknick.
Und der Himmel wäre unser Zelt mit seinem Geschmeide an funkelnden Sternen.
Reise zu den Plejaden mit Träumen zart wie der
Flügelschlag der Fledermäuse.
„Ich war einmal in Costa Rica im Urwald. Es war
eine Nacht wie jetzt.", unterbrach sie unvermittelt seinen Gedankenflug.
„Die anderen wollten nicht mit, so viele Fledermäuse waren da. Aber ich bin
los. Da waren so viele Glühwürmchen, habe ich dir das schon mal erzählt?" -
„Nein!", sagte er. Oder doch, dachte er und versuchte, sich zu erinnern.
Möglich. „Glühwürmchen, die sind was Schönes. Ich habe darüber einmal ein
Gedicht geschrieben.", sagte er. „Und neulich habe ich welche gesehen, in
der Stadt, aber das waren bloß zwei".
„Zwei sind doch genug!"
Der Andrea sollte er dann noch anrufen. Dass er
im Urlaub doch nicht zu ihr komme. Und dann den Kindern. Wie aber sollten
die nachkommen?
Dieser Blick ihrer Augen! Ihm war in seinem
Bauchgeflecht, als ginge in ihm eine innere Sonne auf und als löste sich ein
fester Knoten.
Mit ihr die Wärme der Sonne und den aufregenden
Geschmack des Salzes auf der Haut genießen! Synfonien und Fontänen von Glück
verspüren! Die Schwelle zu einem nie enden wollenden, rauschendem Konzert -
war sie bereits überschritten, oder stand sie noch bevor?
Gemeinsam an traumhaften Stränden liegen! Dem
Rhythmus der Brandung lauschen! Nach der Ebbe die Flut erleben!
Stundenlang als bunte Schmetterlinge auf warmen
Steinplatten die Sonne tanken! Und danach aufsteigen in unvorstellbare Höhen
des Glücks, bevor es ungemütlich und langweilig wird.
In seinem Bauch waren sie schon, die
Schmetterlinge. Sie stießen sich ihre zarten Flügel ungeduldig an seinem
Magen und an die bebende Bauchdecke. Sie wollten mehr.
Sie wollten eine traumhafte Zeit mit ihr
verbringen, die seine unbeschwert dahin gaukelnden Gedanken jetzt nur grob
skizzierten!
Doch dann traf es ihn wie ein Messer aus dem
Hinterhalt: „Vielleicht ist es besser, du fährst mit deinen Kindern
dorthin!" Und die Kälte einer Nacht ohne Samt nistete sich wieder bei ihm
ein. Das schlechte Gefühl sackte in die Magenspitze und von dort bis in die
Knie. Das schlechte Gefühl - es brachte den zarten Schmetterlingen einen
schnellen Tod. Die Schmetterlinge und er, sie waren hingeschüttet wie
Wasser, die bunten Flügel nach einer Bruchlandung in zähen Morast getreten.
Als er sie später einmal zufällig in der
Bücherei traf, da zog es sie unaufhaltsam zu ihm hin wie ein Strohhalm in
einem Strudel, und sie sagte sogleich: „Weißt du, ich kam einfach nicht
umhin, vernünftig zu sein!"
Was für ein Satz! Da verstand er, dass sie
ähnlich empfunden hatte.
Er lud Solveigh zu einer Tasse Kaffee ein.
Sie erzählten sich die lustigen Geschehnisse der
damaligen Fahrt, schwelgten in ihren Erinnerungen.
Plötzlich wurde sie für einen Moment ernst. „Es
ist manchmal so wenig, was einen Tag gelingen lässt, eine gute Begegnung
oder eine schöne Melodie." Er hörte atemlos zu. „Oder ein beiläufig
scheinendes Gespräch im Auto, bei dem man befreiend lachen kann, und an das
man sich gewiss gerne erinnert! Das einen hochzieht!", fuhr sie fort. Er
entgegnete: „Allerdings ist es halt oft so, dass man nicht zufrieden ist
dort, wo man gerade ist. Das hat schon der kleine Prinz gewusst. Man ist in
seinen Träumen gefangen, die manchmal in die Unzufriedenheit führen und
dabei übersieht man die Fülle des Moments, der Gegenwart."
Wieder traf ihn ihr Blick.
„Glück erlebt man aber immer nur in
Augenblicken. Das Glück des Augenblicks genießen und wertschätzen - ist das
im Grunde nicht die wahrhaft hilfreiche und zufrieden stellende Kunst?"
resümierte sie.
Ihre Worte hatte sie wohlüberlegt und
akzentuiert, aus tiefer Reflexion herab gesetzt.
Endlich hatte er die Antwort auf seine heimliche
Frage. Und ihm wurde bewusst, dass nicht alles, was nach einer harten
Bruchlandung im kalten Wasser aussieht, auch eine Katastrophe ist.
Denn diese Erkenntnis war für ihn sehr wertvoll,
wertvoller als ein wochenlanger Urlaub an der Adria, dessen Erlebniswert mit
hohen Erwartungen zugepflastert ist: Ja, sie hatte Recht, glücklich ist man
immer nur einen Augenblick. So muss es auch den Anderen gehen. Und er hatte
das große Glück, dass seine Gedanken die Fülle des Augenblicks zu einem
wunderbaren Flug aufschwingen können! Nur zu nahe an die Sonne sollten die
wächsernen Flügel nicht kommen ... damit es keinen heftigen Absturz gibt
...
Kurz-Geschichte: Michael
Blumenbunt
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