Bipolaritäten im Kontext der „bipolaren Störung“
Einleitung
Die These in diesem Aufsatz lautet, dass es
nicht die Bipolarität gibt, sondern eine Vielzahl an Polaritäten, die
das Krankheitsbild der „bipolaren Störung“ wechselseitig beeinflussen. Für
diese „bipolare Vielfalt“ möchte dieser Aufsatz sensibilisieren.
Ich greife dieses Thema auf, weil ich den
Eindruck habe, dass es besonders für Ärzte, aber auch für Angehörige und
Erkrankte nur „die eine bipolare Gewissheit“ zu geben scheint, auf deren
Grundlage diagnostiziert, behandelt und gelebt wird, wobei mitlaufende
Perspektiven vernachlässigt werden oder zu kurz kommen - und durch eine
derartige einseitige Sichtweise andere kreative Heilswege ausgeschlossen
werden.
Ich gliedere diesen Aufsatz folgendermaßen:
Zunächst werde ich kurz in das Konzept der „Bipolarität“
einführen (Punkt 1). Ich halte diese Ausführungen für nötig, um zumindest
eine Ahnung von dem zu vermitteln, was alles in diesem Begriff steckt.
Anschließend werde ich Bipolaritäten von Ärzten und Angehörigen im Rahmen
der „bipolaren Störung“ aufzeigen (Punkt 2). Es folgt eine „bipolare
Beschreibung“ des Bipolaren, also einer Person, die an einer „bipolaren
Störung“ erkrankt ist (Punkt 3). Danach folgt auch schon eine Anbindung
meiner Überlegungen in die Praxis.
Vorweg noch einige Anmerkungen zur
Schreibweise:
-Personen, die in diesem Aufsatz auftauchen (der
Arzt, der Bipolare etc.) sind Verallgemeinerungen, die stellvertretend für
eine charakteristische Denk- und Handlungsweise stehen; der personale
Gebrauch geschieht aus rein didaktischen Gründen.
-Ich werde überwiegend das männliche Genus
gebrauchen, die weibliche Form sei immer impliziert.
1. Was ist „Bipolarität“?
„Bipolarität“ ist ein Spannungsfeld, das bei der
Gegenüberstellung zweier Pole entsteht, wobei ein „Pol“ als „maximaler
Ausschlag eines (Ziel-)Punktes“ definiert werden kann. Somit ist „Bipolarität“
immer das Ergebnis einer Differenz.
„Bipolarität“ ist ein allgemein verbreitetes
Denk- und Handlungskonzept, allein im Sprachlichen gibt es eine Vielzahl an
Bipolaritäten, z.B. „dumm“ vs. „schlau“, „schön“ vs. „häßlich“, „manisch“
vs. „depressiv“ usw. Warum aber erzeugt der Mensch oftmals einen
Spannungsbogen mit nur zwei Polen und nicht drei, vier oder noch mehr? Warum
hangelt er sich an bipolaren Gegensätzen entlang und beurteilt andere
Menschen oder Dinge innerhalb eines derartigen Rasters? Schließlich wäre es
genau so gut denkbar, „Bipolarität“ zu relativieren und u.a. für Vielheit,
Pluralität und Offenheit zu plädieren. Wenn einer Denkform
„Schubladendenken“ angelastet werden kann, dann sicherlich dem bipolaren
Denken, bei dem ausschließlich auf der Grundlage eines zweiwertigen
Codes gehandelt und gedacht wird.
Ich möchte auf die Frage, warum „Bipolarität“
das Leben so vielfach strukturiert, vorsichtig antworten: Das Konzept „Bipolarität“
scheint sich bewährt zu haben. Bipolare Codes haben sich bewährt, weil durch
eine Gegenüberstellung zweier „Werte“ eine Markierung stattfindet; die das
Handlungs- und Denkgerüst stabilisiert – und deshalb „überlebensfähiger“ ist
als etwa ein multipolarer Ansatz.
Am Beispiel: Ein Soldat muss den Unterschied
zwischen „Freund“ und „Feind“ verinnerlicht haben, denn erst dann vermag er
ohne zu zögern den „Richtigen“ totzuschießen. Würde er zögern, sich also
abseits dieses bipolaren Codes bewegen, wäre sein Überleben gefährdet, denn
sein Gegner zögert vielleicht nicht.
Wer bipolar denkt und handelt, orientiert sich
nicht allein an den maximalen Ausschlägen der Pole, sondern differenziert
auch „das Dazwischen“ aus. Mit „besser“, „schlechter“, „hypomanisch“,
„subdepressiv“ usw. werden Wertigkeiten zwischen den (jeweils zwei) Polen
erzeugt, für die aber Eines grundlegend ist: sie bewegen sich immer entlang
einer Bipolaritätslinie. Abstufungen, in welcher Form auch immer,
sind immer zwei- und nicht mehrpolig begrenzt. Der Nachteil dieser
Bewegung entlang einer Bipolaritätslinie liegt darin, dass zwar mitunter
hochkomplex differenziert werden kann, „das Andere“ aber nicht in den Blick
gerät. So kann etwa der bipolare ärztliche Code von „krank“ vs. „gesund“ den
Interessen eines Patienten widersprechen, für den der Code „abhängig“ vs.
„frei“ höherstehender ist.
Ob nun im Alltags-, Berufs- oder Überleben,
insgesamt ermöglichen bipolare Codes durch die Konzentrierung auf zweiwertig
begrenzte Gegenüberstellungen eine Orientierung in der Welt. Das Leben kann
nur gemeistert werden, wenn die Vielzahl an Informationen und Reizen, die
auf den Menschen einprasseln, von ihm gezielt selektiert werden - und
bipolare Codes helfen ihm dabei.
Zwei weitere Aspekte zur „Bipolarität“ möchte
ich noch kurz erwähnen:
a) Bipolare Codes strukturieren die Wirklichkeit
nicht „wertneutral“, sondern „wertgebunden“. Einen „objektiven“ bipolaren
Code gibt es nicht. Immer geht es um zeit-, orts-, situations- und
personenabhängige Ordnungsmaßstäbe, die nicht danach beurteilt werden ob sie
objektiv, subjektiv, falsch oder richtig sind, sondern sie werden nach ihrer
Anschlussfähigkeit gemessen. Im Kriegsgebiet mag dem Soldaten ein starres
Freund-Feind-Schema hilfreich sein, in der Zivilisation wird er vermutlich
mit dieser Sichtweise scheitern.
b) Ein bipolarer Code ist erst mit der
Gegenüberstellung von Extremen vollständig und nicht etwa mit der Negation
eines Pols. So beschreibt z.B. das Verhältnis von „Atheismus“ und „Theismus“
keinen bipolaren Code, weil der „A-Theist“ nach wie vor am Theismus „klebt“.
Ein anderes Beispiel: „Unsicherheit“ ist kein entgegengesetzter Pol zur
„Sicherheit“, sondern allenfalls eine Zwischenstufe von „Sicherheit“ vs.
„Angst“.
2. Die Bipolarität von Ärzten und Angehörigen
2.1 Die Bipolarität des Arztes
Der Arzt denkt bipolar und handelt danach.
Grundlage seines Denkens ist der bipolare Code von „gesund“ vs. „krank“. Auf
dieser Grundlage kann er weitere bipolare Codes erzeugen, z.B. den von
„manisch“ vs. „depressiv“; derartige bipolare Differenzierungen hängen aber
gewissermaßen am Tropf des bipolaren Codes „gesund“ vs. „krank“.
Zunächst zum diesem bipolaren Code von „gesund“
vs. „krank“: Dieser Code ist keineswegs „objektiv“, sondern er legitimiert
primär die Arbeit des Arztes und sichert seine Existenz. Mit anderen Worten:
der Arzt pathologisiert, um zu überleben, er macht krank. Das
geflügelte Wort, dass „gesund“ zu sein für den Arzt heißt, noch nicht
ausreichend diagnostiziert zu sein, ist seine überlebensnotwendige Maxime.
Dieses „bipolare Konzept“ ist weder als richtig
noch als falsch zu bezeichnen, sondern wesentlich sind Anschlussfähigkeit
und Erfolg dieser Sichtweise.
Andere Sichtweisen, die ebenfalls eine
Verbesserung der körperlichen und geistigen anstreben, sind nicht weniger
wahr oder falsch als die medizinische Sichtweise, sondern sie scheitern
häufig schlicht daran, dass sie sich gegenüber der ärztlichen Sichtweise
nicht ausreichend durchzusetzen vermögen. Am Beispiel: Psychiatriepatienten
könnte man z.B. als Menschen bezeichnen, die nicht krank, sondern hochgradig
sensibilisiert gegenüber Außenwahrnehmungen sind und von daher nicht an
ihrer Krankheit, sondern an ihrer Umgebung leiden, wodurch weniger eine
„Therapie“ als eine Veränderung der Umwelt im Vordergrund stehen müsste.
Dieser Ansatz mag plausibel sein, seine Durchsetzung scheitert aber
vorwiegend daran, dass der bipolare Code von „gesund“ vs. „krank“ mächtiger
ist – ob zu Recht oder zu Unrecht, steht an dieser Stelle nicht zur Debatte.
Wie auch alle anderen bipolaren Codes verengt
der bipolare Code von „gesund“ vs. „krank“ die Aufmerksamkeit, um das
„Arbeitsfeld“ deutlicher zu markieren. Der Arzt betrachtet den Menschen
„nur“ als Maschine, die entweder funktionstüchtig ist oder in vielerlei
Hinsicht gestört sein kann.
Der Mensch ist im Verständnis des Arztes immer ein „gestörter
Stoffwechselautomat“ (K.Pehe). Liegt eine Störung vor, muss interveniert
werden, die Maschine also wieder repariert werden.
Damit soll nicht gesagt sein, dass der Arzt etwa
keine biographischen oder sozialen Komponenten berücksichtigt, das tut er
schon; nur richtet er diese Sichtweisen wieder auf sein bipolares Denken
aus, zusätzliche psychosoziale Komponenten sind gewissermaßen Ersatzteile
für die Maschine und keine eigenständigen „Heiler“.
Wie bereits angedeutet, insgesamt ist dieses
Konzept mehr oder weniger erfolgreich, es gibt Segnungen der Medizin, es
gibt aber auch z.B. 20000 Tote im Jahr, die an einer im Krankenhaus
erworbenen Infektion sterben. Und wenn man Psychiatriepatienten beobachtet,
muss man zumindest konstatieren, dass der „Erfolg“ mit einem hohen Preis an
Nebenwirkungen bezahlt werden muss.
Am Beispiel der „bipolaren Störung“ sei kurz
dargestellt, inwiefern bipolare Codes des Arztes auf diese „Krankheit“
wirken:
Sobald der Arzt einen psychisch auffälligen
Menschen auf der Grundlage von „gesund“ vs. „krank“ zu einem Patienten
gemacht hat, wird der Patient so lange „krank“ bleiben, wie der Arzt auf ihn
seine Aufmerksamkeit richtet. Der Arzt kennt variationsreiche Abstufungen
einer „bipolaren Störung“, z.B. Typ I bis IV, Zyklothymien, rapid cycling
usw – und derartige diagnostische Unterscheidungen basieren auf dem
Grundsatz, dass Menschen dieses Typus IMMER krank sind. Mit anderen Worten:
der bipolare Code „manisch“ vs. „depressiv“ ist mitsamt seiner Abstufungen
komplett pathologisiert. Ein Bipolarer kann also nur dann „gesund“ sein,
wenn er sich der Aufmerksamkeit des Arztes entzieht.
In bezug auf die „bipolare Störung“ können in
diesem Zusammenhang beispielhaft folgende Fragen gestellt werden: Ist „Hypomanie“
immer ein krankhafter Zustand? Darf ein „Maniker“ sich wohl fühlen? Macht
der Arzt bei der Therapie einer Manie den Bipolaren unverhältnismäßig krank
(Fixierung, K.o.-Spritze etc.)? Darf ein Depressiver sich auch mal schlecht
fühlen? - Ob diese Fragen besonders schlau sind, sei dahingestellt, ich
wollte lediglich verdeutlichen, dass auch bei der „bipolaren Störung“ der
Arzt im Raster denkt – und dabei immer den Patienten, aber nicht immer den
Menschen trifft. Dies ist der Preis der gerichteten Aufmerksamkeit bzw. des
bipolaren Denkens des Arztes.
Der Arzt hat keine andere Wahl, als krank zu
machen, weil das die einzige Perspektive ist, die er hat. Das ist zunächst
nichts Schlimmes und in den meisten Fällen sehr wirkungsvoll, nur scheint
mir das Wissen um diese gerichtete Perspektive des Arztes wichtig für die
Einschätzung von dem, wie ein Arzt behandelt – nämlich „patientenbezogen“
und somit immer nur orientiert an einem Ausschnitt des Menschen. Kein Arzt
behandelt ganzheitlich, sondern immer nur selektiv.
2.2 Die Bipolarität von Angehörige
Angehörige haben nicht wie der Arzt ein
professionelles Verhältnis zum Bipolaren, sondern ein
verwandtschaftlich-emotionales. Sie leben häufig mit dem Bipolaren unter
einem Dach und ihre Interaktionen mit ihm sind zeitlich viel ausgedehnter
als die Interaktionen eines Arztes mit einem Bipolaren; von daher besteht
eine ganz andere Form der Zuwendung. Diese Zuwendung ist ebenfalls an einem
bipolaren Code orientiert, nämlich den von „normal“ vs. „verrückt“.
Angehörige müssen mit dem Bipolaren leben und
sie müssen selbst überleben, von daher interessiert es sie weniger, ob der
Bipolare „gesund“ oder „krank“ ist, sondern wie sie mit dem Bipolaren im
Alltag klarkommen. Sie müssen den gesamten Lebenskontext berücksichtigen,
z.B. spielen die Kinder, die Kollegen, die Nachbarschaft sowie die
ökonomische Absicherung eine Rolle usw.. „Normalität“ ist dann gegeben, wenn
„es läuft“, also der Alltag mit der Bipolarität des Bipolaren strukturiert
werden kann, und das unabhängig von „Krankheit“ oder „Gesundheit“ des
Bipolaren. Natürlich spricht auch das Medizinische eine Rolle, aber „normal“
ist nicht gleich „gesund“ und „verrückt“ nicht gleich „krank“! Aufgrund der
Tatsache, dass viel Zeit und viel Raum miteinander geteilt wird und auch
geteilt werden muss, entwickeln sich (Über-)Lebensstrategien, die ein
Krank-Gesund-Schema zwar einschließen, aber nicht primär handlungsleitend
oder wegweisend sind. An zwei Beispielen sei der bipolare Code der
Angehörigen von „normal“ vs. „verrückt“ im Unterschied zur Sichtweise des
Arztes skizziert:
-Angehörige können es ggf. als erholsam
empfinden, wenn der Bipolare sich eher depressiv als manisch verhält, sie
können ihn dann lenken, mit ihm vernünftig sprechen usw., also die gesamte
Umgebung (wieder) normal gestalten. In dieser Phase mag der Bipolare zwar
ärztlicherseits krank sein, aber angehörigerseits ist die Situation zunächst
einmal tragfähig, also normal.
Anders bei der Manie, wo Angehörige in vielen
Fällen versuchen, trotz „Krankheit“ des Bipolaren die „Normalität“
aufrechtzuerhalten, dieses aber häufig nicht funktioniert und die
„Verrücktheit“, also die nicht mehr bestehende Gesellschaftsfähigkeit, ihre
Handlungsfähigkeit einengt.
-Angehörige schicken den Bipolaren vorrangig
nicht ins Krankenhaus, weil er krank ist, sondern weil er für sie nicht mehr
tragfähig, nicht mehr normal ist. Sie sehen nicht primär das Medizinische,
sondern sind zunächst froh, der „Verrücktheit“ des Bipolaren entkommen zu
können und verschaffen sich Sicherheit in bezug auf drohende Fremd- oder
Eigengefährdung des Bipolaren.
3. Der Bipolare
Der Bipolare ordnet sein Leben ebenfalls
bipolar, allerdings in mehrfacher Hinsicht bipolar. Ich greife die drei
klassischen Lebensstrukturen Körper, Geist und Sozialität heraus, um
darzustellen, wie der Bipolare sein Leben mit mehreren Polaritäten
strukturiert.
Körper, Geist und Sozialität sind in der
Lebenswelt jedes Menschen miteinander verwoben, dennoch werde ich sie
isoliert voneinander betrachten, ich dreiteile also wohlgemerkt abstrakt.
Das führt notwendigerweise zu Verkürzungen, denn eine derartiges Raster kann
nur eine (hoffentlich) veranschaulichende didaktische Trennung sein und
nicht die Lebenswelt widerspiegeln. Dennoch scheint mir der Erkenntnisgewinn
diese Verkürzungen zu rechtfertigen.
3.1 Der Bipolare und sein Körper
Ich wiederhole: der „klassische“ bipolare Code
eines naturwissenschaftlich orientierten Arztes in bezug auf die
Körperlichkeit eines Menschen liegt zwischen „körperlich krank“ und
„körperlich gesund“. In welchem Fall der Körper nicht funktioniert, ein
Mensch also als „krank“ zu bezeichnen ist, unterliegt zwar begründbaren
Kriterien, immer ist aber die Setzung von „körperlich krank“ und „körperlich
gesund“ normiert, und zwar im Hinblick auf dem, worauf der Arzt seine
Aufmerksamkeit richtet bzw. richten kann, darf und richten muss.
Der Bipolare verwendet einen anderen bipolaren
Code im Hinblick auf seinen Körper, er hat eine ganz „eigene“ Bewusstheit
von dem, was seine Körperlichkeit auszeichnet. Wenn er diese Bewusstheit
einsetzt, verwendet er den bipolaren Code von „gutem körperlichem Befinden“
vs. „schlechtem körperlichen Befinden“.
Aufgrund dieses unterschiedlichen „Zugangs“ zum
Körper kann es zu Differenzen zwischen Arzt und Bipolarem kommen. In einigen
Fällen können sich sogar beide Codes widerstreiten, und es entscheidet der
„Stärkere“, welche Sichtweise nun performativ wirksam ist. Der „Ungehorsam“
des Bipolaren gegenüber des bipolaren Codes des Arztes aufgrund
unterschiedlicher Codierungen ist ein wesentlicher Faktor, der Bipolare von
Nicht-Bipolaren unterscheidet; letztere sind in der Regel „froh“, ärztliche
Hilfe in Anspruch nehmen zu können.
An dem Beispiel „Libido“ möchte ich diesen
Widerstreit zwischen dem Bipolaren und dem Arzt kurz aufzeigen: Eine
„bipolare Störung“ kann zu einer reduzierten oder zu einer gesteigerten
Libido führen. Bei Vorliegen einer reduzierten Libido würde der Bipolare
sich vermutlich als „körperlich eingeschränkt“ oder „krank“ bezeichnen, und
der Arzt würde ihm vermutlich zustimmen – womit aber noch keine Aussage
darüber getroffen ist, wie der Bipolare leidet: Ist er „krank“ bei
„körperlich gutem Wohlbefinden“ oder „nur krank“, weil die reduzierte Libido
Ausdruck seiner Depressivität sein könnte?
Der Widerstreit zwischen Arzt und Bipolaren wird
deutlicher, wenn sich nun die Libido des Bipolaren wieder steigern würde.
Der Bipolare könnte sich als „hochgradig gesund“ einschätzen, gleichwohl
könnte seine gesteigerte Libido vom Arzt als Vorbote einer manischen Phase
und somit als pathologisch bzw. „krank“ gewertet werden.
Nehmen wir nun an, der Arzt würde dem Bipolaren
ein Medikament verschreiben, das die Libido einschränkt. In diesem Fall
würde der der Arzt den Bipolaren „krank“ machen, um „Gesundheit“ an anderer
Stelle herbeizuführen, er erkauft sich gewissermaßen mit einer
„Nebenkrankheit“ die „kranke Gesundheit“ des Bipolaren. Der Bipolare wird
also „krank“ gemacht, um „gesund“ zu werden. Nicht immer nimmt der Bipolare
das in Kauf, weil seine körperliche Bewusstheit schlicht anders „tickt“,
z.B. kann er sich „schlecht“ fühlen, obwohl er im wahrsten Sinne des Wortes
vom Arzt „gesund“ gemacht wurde.
Mit diesem Beispiel sei angedeutet, dass sich
Konflikte zwischen Arzt und Bipolaren ergeben können, weil sie jeweils
widerstreitende bipolare Codes verinnerlicht haben. So kommt es vor, dass
sich in einigen Fällen der Bipolare den Anordnungen des Arztes widersetzt
wie es genausogut vorkommt, dass der Arzt sich über das gute körperliche
Befinden des Bipolaren hinwegsetzt.
Es geht in diesem Zusammenhang wohlgemerkt nicht
um die Frage, wer von beiden denn nun Recht hat, sondern vorrangig um die
Darstellung unterschiedlicher bipolarer Sichtweisen – und um den Aspekt,
dass jedes Homöostasebestreben normiert ist, sowohl auf Seite des Arztes als
auch auf Seite des Bipolaren.
Eine weitere körperliche Besonderheit möchte ich
am Rande erwähnen: Viele körperliche Störungen des Bipolaren haben gar kein
Gesicht, so dass der Arzt nicht direkt intervenieren kann. Ein Beispiel ist
die Äußerung von Bipolaren, dass sie „wie gelähmt“ seien. In Extremfällen
bedeutet dies, nicht einmal mehr die Toilette aufsuchen zu können bzw. nur
noch im Bett liegen zu bleiben. Die Beweglichkeit wird also regelrecht zur
Qual, und obwohl das körperliche Bewusstsein des Bipolaren hochgradig
ausgeprägt ist, die „Lähmung“ regelrecht gefühlt wird, ist der Bipolare für
den Arzt körperlich gesund, weil die Beweglichkeit in medizinischem Sinne
noch vollständig erhalten ist.
Sicherlich übertrieben formuliert, aber immer
noch in der Realität, kann man sagen: Wenn ein Bipolarer verschwenderisch
mit seinen körperlichen Ressourcen umgeht, wenig Schlaf findet, nur noch
arbeitet usw., dann fühlt er sich „gesund“, also „körperlich wohl“, wird
aber von anderen Seiten als „krank“ bezeichnet. Wenn der Bipolare sich
hingegen ausgesprochen „körperlich krank“ fühlt, dann kann es sein, dass er
von anderer Seite als „körperlich gesund“ bezeichnet wird. Paradoxe
Sichtweisen, die auf unterschiedliche bipolare Sichtweisen zurückzuführen
sind.
3.2 Der Bipolare und seine Sozialität
Der Bipolare bewegt sich in sozialer Hinsicht
zwischen dem bipolaren Code von „isoliert“ und „integriert“. Er kann z.B.
isoliert sein, wenn er seine Gefühle nicht mehr mit den Gefühlen seiner
Angehörigen abstimmen kann oder wenn er ihnen „auf den Kopf rumtanzt“, die
Bedürfnisse der Angehörigen also gar nicht mehr wahrnimmt. Andersrum kann er
sich integriert fühlen, wenn er im Krankenhaus ist oder wenn er sich mit
Freunden trifft, die ihn „aushalten“. Diese Beispiele sollen zeigen, dass
der bipolare Code von „normal“ vs. „verrückt“, den die Angehörigen benutzen,
für einen Bipolaren im Austausch mit seiner Umwelt nicht greift. Der
Bipolare kann sich a-sozial verhalten, sich aber integriert fühlen bzw.
integriert sein. Er kann sich z.B. integriert fühlen im Krankenhaus, und
paradoxerweise im Kreis seiner Angehörigen isoliert fühlen.
Wie schwierig, aber gleichzeitig wichtig es ist,
derartige bipolare Codes auseinanderzuhalten, kann z.B. an der Frage ersehen
werden, ob der Bipolare depressiv ist, weil er sich isoliert fühlt, oder ob
er isoliert ist, weil er sich depressiv fühlt.
3.3 Der Bipolare und seine Psyche
Bei diesem Unterpunkt ist es besonders schwer,
einen bipolaren Code zu benennen. „Manisch“ und „depressiv“ sind ebenso wie
„psychisch gesund“ und „psychisch krank“ letztlich pathologisierende Pole,
die deshalb für die Beschreibung der Psyche eines Bipolaren nur teilweise
greifen. Wenn z.B. die emotionale Schwingungsfähigkeit des Bipolaren
beachtet wird, dann interessiert den Bipolaren nicht, ob mit Begriffen wie
„krank“, „verrückt“, „depressiv“ o.ä. versehen wird, sondern wie „es“ sich
für ihn psychisch anfühlt. Ihn interessiert also, ob das, was er da fühlt,
„psychisch bedrohlich“ oder „psychisch förderlich“ ist – und das ist auch
der bipolare Code im Hinblick auf seine Psyche.
Ich habe absichtlich nicht „psychisch gutes“ und
„psychisch schlechtes Befinden“ in Analogie zum körperlichen bipolaren Code
gebraucht, weil die psychische Ebene eine noch existentiellere Ebene
darstellt. Schließlich bringt sich ein Teil Bipolarer ohne Vorhandensein
körperlicher Defizite um.
Am Beispiel der Rückzugs- bzw.
Extraversionstendenz soll dieser bipolare Code kurz verdeutlicht werden:
Zieht sich der Bipolare zurück, dann kann es für ihn „psychisch förderlich“
sein, von außen kann es aber als Krankheitssymptom gewertet werden bzw. als
interventionswürdig. Wenn der Bipolare sich hingegen mit einem Polizisten
anlegt, ist das für ihn (zunächst) psychisch förderlich – und wird dann
häufig als Ausdruck seiner Erkrankung gedeutet. An diesem Beispiel zeigt
sich wieder die Kollision unterschiedliche bipolarer Codes.
Einen weiteren Punkt auf der psychischen Ebene
möchte ich noch kurz erwähnen, und zwar den Glauben, in der Depression sei
der Bipolare passiv und in der Manie aktiv. Das ist falsch, denn bipolare
Codes zeichnen sich dadurch aus, dass sie unter Spannung stehen. Auch in der
Depression ist der Bipolare hochgradig aktiv und gespannt! Er sucht ständig
und aktiv nach „psychisch Förderlichem“ - und kann es nicht finden, deswegen
leidet er so sehr unter seinem Zustand. Er leidet so sehr, dass er diese
„Suche in der Leere“ manchmal sogar nicht auszuhalten vermag...
Schluss
In dieser kurzen Beschreibung unterschiedlicher
Bipolaritäten versuchte ich deutlich zu machen, dass das Phänomen „bipolare
Störung“ nicht eingleisig katalogisiert werden darf und nicht nur einer,
sondern mehrere bipolare Ansatzpunkte für die „Behandlung“ wichtige Rollen
spielen. Ziel meiner Überlegungen ist, anders über Bipolarität
nachzudenken; ob diese Andersheit anschlussfähig ist, muss sich erst noch
zeigen
Alle beschriebenen bipolaren Codes, seien es die
von Ärzten, Angehörigen oder Bipolaren, sind sehr stabil und müssen bei
Interventionen berücksichtigt werden. Es nützt nichts, wenn z.B. der Arzt
mit etlichen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten aufwarten kann, er dabei
aber die bipolaren Codes von Angehörigen und Bipolaren unberücksichtigt läßt.
Gefragt ist also eine Vernetzung derartiger bipolarer Ansätze.
Ich sehe in meinem Ansatz, der alles andere als
vollständig ist und lediglich als ein erster Versuch anzusehen ist, die
„Diskussion zwischen den Fraktionen“ anzuregen, auch einen Ansatz, auf
autopoietische (also selbst hergestellte) Muster aufmerksam zu machen.
Letztlich behandelt der Arzt nicht den Bipolaren, sondern er bewegt sich
innerhalb seines bipolaren Codes und erst sekundär nützt oder schadet er den
„Patienten“. Keiner kann und will auch meistens nicht auf den Gleis des
anderen aufspringen. Komplex und damit mit der Aussicht auf Erfolg wird die
Beschäftigung mit dem Phänomen „bipolare Störung“ nur, wenn nicht alle
„Parteien“ sich auf ihrer Art und Weise ausdifferenzieren, sondern wenn
unter den „Parteien“ die ganz spezifischen Erfahrungen ausgetauscht werden –
und da sehe ich noch sehr großen Bedarf.
Anschrift des Verfassers:
Andreas Auferoth
Yorckstr.11
44536 Lünen
mail: auferatus@t-online.de
Ich vermute, dass die
Ärzteschaft gesellschaftlich einflußreicher als die Pädagogenschaft ist,
weil sie einen deutlicheren bipolaren Code installiert hat: „krank“ vs.
„gesund“ ist ein bipolarer Code, der ihre Tätigkeiten klar strukturiert,
Pädagogen hingegen kämpfen noch mit ihrem „Code“. Z.B. ist ihr Code von
„erzogen“ vs. „unerzogen“ oder „gebildet“ vs. „ungebildet“ kein
bipolarer Code, an den sie sich ähnlich klar orientieren könnten.
Erfordernisse und
Schwierigkeiten der sog. „compliance“ beleuchten dieses Thema näher,
allerdings meistens nur aus medizinischer Sicht. Ebenfalls kann man in
diesem Zusammenhang die Komorbiditäten erwähnen, also z.B. der Griff des
Bipolaren zur Flasche, um „gutes körperliches Befinden“ herbeizuführen,
das ihn im ärztlichen Sinne „krank“ oder „noch kränker“ macht. Eine
intensivere Auseinandersetzung mit derartigen Themen sind wichtig, hier
geht es aber um die Darstellung von Prinzipien, und nicht um die
Diskussion praxisrelevanter Themen in diesem Kontext.
Ich vermute, dass die
Ärzteschaft gesellschaftlich einflußreicher als die Pädagogenschaft ist,
weil sie einen deutlicheren bipolaren Code installiert hat: „krank“ vs.
„gesund“ ist ein bipolarer Code, der ihre Tätigkeiten klar strukturiert,
Pädagogen hingegen kämpfen noch mit ihrem „Code“. Z.B. ist ihr Code von
„erzogen“ vs. „unerzogen“ oder „gebildet“ vs. „ungebildet“ kein
bipolarer Code, an den sie sich ähnlich klar orientieren könnten.
Erfordernisse und
Schwierigkeiten der sog. „compliance“ beleuchten dieses Thema näher,
allerdings meistens nur aus medizinischer Sicht. Ebenfalls kann man in
diesem Zusammenhang die Komorbiditäten erwähnen, also z.B. der Griff des
Bipolaren zur Flasche, um „gutes körperliches Befinden“ herbeizuführen,
das ihn im ärztlichen Sinne „krank“ oder „noch kränker“ macht. Eine
intensivere Auseinandersetzung mit derartigen Themen sind wichtig, hier
geht es aber um die Darstellung von Prinzipien, und nicht um die
Diskussion praxisrelevanter Themen in diesem Kontext.
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